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Gestern habe ich in einer Zeitschrift einen Artikel gelesen, der mich sehr zum Nachdenken angeregt hat. Ein junger Mann war auf einer kleinen Treppe ausgerutscht und gestürzt. Keine große Verletzung, aber er war auf den Kopf gefallen. Er konnte sofort aufstehen, aber sein Gedächtnis war komplett verschwunden. Und mit komplett ist wirklich komplett gemeint. Er konnte die eigene Familie oder Freunde nicht mehr erkennen, hatte keine Vergangenheit mehr, aber auch keine Ziele. Alte Vorlieben und Hobbys haben ihn nicht mehr interessiert. Das motorische Gedächtnis wie Zähne putzen oder duschen funktionierte aber noch.

Eine schwierige Zeit nicht nur für die Familie, sondern auch für ihn selbst. Er beschreibt die ersten zwei/drei Jahre, als sei er in einem Nebel gewesen. Selbst Gefühle wie Angst oder Freude waren nicht mehr vertraut und mußten erst wieder neu kennen gelernt werden. Am Ende wurde aus einem eher analytisch denkenden, ruhigen jungen Mann, der gerne für Marathons trainierte, ein spontaner, experimentierfreudiger Mensch, der sich gerne auffällig kleidet und Sport verabscheut.

Der Verlust der Identität ist erst einmal zutiefst beunruhigend. Plötzlich keine Idee mehr zu haben, wer man ist, was und wen man mag, macht Angst. Andererseits ist es aber plötzlich eine Chance, völlig neu zu starten. Je nachdem, wie starr die Persönlichkeit ist, fällt das leichter oder eben auch nicht.

Für mich ist anhand dieser Schicksalsbeschreibung nochmal klar geworden, wie sehr wir Menschen durch die Geschichte in unserem Kopf definiert werden. Wie sehr sie unsere Identität bestimmt. Eine Geschichte, die wir uns immer wieder auf dieselbe Art und Weise erzählen – Tag ein Tag aus. Meistens ohne große Abweichungen. Familie, Kollegen und Freunde tun ihr übriges, um diese Story zu untermauern. Was wäre wenn ich mir einfach von gleich auf jetzt eine neue Geschichte erzähle oder immer mal wieder ein bisschen variiere. Die Umwelt würde mich vermutlich für verrückt erklären, denn ich wäre ja auch nicht mehr der beständige Spiegel für die anderen. Dabei ist die wunderbare Einsteinsche (angeblich) Definition von Wahnsinn, “immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.”

Krankheiten gehören auch zur eigenen Geschichte. Insbesondere chronische Erkrankungen können ein Bestandteil der Persönlichkeit werden. Das läuft sehr unbewußt ab, denn wer möchte schon Schmerzen oder Unwohlsein behalten. Aber es ist durchaus sinnvoll, sich selbst zu fragen, wer bin ich zum Beispiel ohne meine Migräne oder meine chronischen Schmerzen. Vergangenheit, emotionale Traumata , aber auch schöne Erlebnisse sind sehr stabile Eckpfeiler für den Geschichtenerzähler im Kopf.

Also es lohnt sich darüber nachzudenken, ob Ihnen alle Teile Ihrer Geschichte, die Sie sich und anderen erzählen gut tun, oder ob es vielleicht interessantere Variationen gäbe. Sie müssen es nicht gleich wie der junge Mann machen und mit einem komplett weißen Blatt beginnen, aber hier und da eine Änderung ist ein guter Start. Sie bestimmen selbst, wie ernst oder humorvoll Ihre persönliche Geschichte sein soll oder wie kreativ und abwechslungsreich.

Machen Sie was draus.