Genau diese Frage wurde mir in letzter Zeit häufiger gestellt. Und zugegebenermaßen bin ich hier ein ums andere Mal ganz schön ins Stocken geraten. Denn die Idee, dass kleine nicht sichtbare Öffnungen am Körper, Energie transportieren, ist für unser westliches Gehirn nur schwer zu verstehen.
Die Akupunkturmeridiane und-punkte sind nicht etwa ein altertümliches Modell für Nerven-, Lymph- oder Blutbahnen, sondern ein ganz eigenes, vielleicht sogar strukturloses System.
In dem chinesischen Zeichen für Akupunkturpunkt sind bereits zwei Konzepte enthalten. Einmal das Zeichen für wasserähnliche Bewegung und zum Zweiten ein Zeichen, das eine Art Aushub beschreibt, der als Ort des Schutzes dient, ähnlich einem Keller oder Bunker in einem Haus. Nimmt man beides zusammen, beschreibt das in ungefähr kleine Schutzorte am Körper, an denen eine signifikante Bewegung stattfindet, um genau zu sein, von Qi und Blut. Also ist ein Punkt ein Ort, von wo aus Informationen transformiert und transportiert werden können. Diese einzelnen Punkte werden durch die Zirkulation von Qi und Blut in einem sogenannten Meridian- oder Leitbahnsystem miteinander verbunden, welches schließlich auch die Organe mit den entfernten Gliedmassen vereint.
Indem man eine Nadel in einen spezifischen Punkt einführt, beeinflußt man nicht nur die umgebenden Strukturen, sondern auch das gesamte mit dem Punkt zusammenhängende Meridiansytem und die entsprechenden Organe. Und da das ganze System miteinander interagiert und kommuniziert kann man auch vom Zustand der Akupunkturpunkte, Rückschlüsse auf die Organfunktion ziehen.
In der Ausbildung erlernt man die Lokalisation der einzelnen Punkte sehr praxisnah. Hierfür gibt es ein eigenes Bemessungssystem, die sogenannten Cun. Diese Messeinheiten kann man für jeden Punkt auswendig lernen, wenn man das möchte. In der Realität gibt es aber immer mal wieder kleine Abweichungen schon innerhalb eines Menschen. Es empfiehlt sich daher, ein Gespür für die Punkte zu entwickeln. Fährt man mit dem Finger über den Leitbahnverlauf bleibt man an den Punkten ein wenig ‘hängen’ und fällt manchmal auch in eine kleine Kuhle. Tatsächlich ist der Hautwiderstand an den Punktorten messbar höher.
Jeder Punkt hat einen Namen, der die Eigenschaften in einer komplexen Symbolik beschreibt. Schon die deutsche Übersetzung birgt die Gefahr, einen Großteil der innewohnenden Magie zu verlieren, einfach weil unsere Sprache soviel linearer ist. Gibt man den Punkten dann nur noch eine Nummer und benennt sie nach dem Organmeridian auf dem sie sich befinden, z.B. Leber 3 oder Dickdarm 4, dann beraubt man sie komplett ihrer potentiellen Möglichkeiten. Jeder Punkt ist ein eigener kleiner Kosmos, ein Hologramm, in dem ganz viel Information steckt. Diese Information kann ich dem Körper über die Nadelung verfügbar machen. Informiert wird dann von diesem Punkt ausgehend aber jede einzelne Körperzelle.
Ich habe einen Dozenten, der sagt, dass man über jeden einzelnen Punkt ein ganzes Buch schreiben kann. Und, dass man den Punkten am ehesten gerecht wird, wenn man Analogien herstellt, um wirklich zu begreifen, welche Eigenschaften sie haben. Jedem Punkt wird ein Berg, ein Fluß, eine Pflanze, eine Jahreszeit, eine anatomische Struktur etc. zugeordnet. Er würde sogar noch ein literarisches Werk und einen Film hinzufügen. Diese Vorgehensweise wird der gewaltigen Bildsprache, die in der chinesischen Symbolik steckt am ehesten gerecht. Auf dieses Buch warte ich sehnsüchtig.
In der Zwischenzeit baue ich meine Beziehung zu den einzelnen Punkten stetig aus. Über die Jahre sind sie wie gute alte Bekannte geworden. Jeder Punkt hat seine eigene Natur und Persönlichkeit. Wie bei alten Freunden weiß man, was ihre Stärken und Schwächen sind und wann man sie um Hilfe bittet. Manche Punkte sind wie Freunde, die man anruft, wenn es um Projekte mit einem größeren Spektrum geht, wo Kreativität und Flexibilität gefragt sind. Andere fragt man an, wenn Konzentration und Fokus angesagt ist. Manche sind intensiv und andere haben mehr Leichtigkeit. Und einige wollen unbedingt in die Mannschaft gewählt werden. Und häufig bringen sie dann genau die richtige Qualität mit, die vorher noch gefehlt hat.
Hier wird die Akupunktur zu einer runden Sache, alles fällt an seinen Platz und alle ziehen an einem Strang. Und genauso fühlt es sich dann auch an.